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Der Begriff „Talent“ in der Personalauswahl
von Kai Adler,
Der Begriff „Talent“ ist in der heutigen Personalauswahl allgegenwärtig. Unternehmen suchen Talente, entwickeln Talentprogramme oder führen Talentpools. Doch was meinen wir eigentlich mit Talent? Und sind die, die wir einstellen mit dem Hinweis „drei neue Talente an Bord“, wirklich Talente? Also Menschen mit besonderen Fähigkeiten? Oder mit einer besonderen Einstellung? Oder beides? Die Antwort auf diese Fragen bleibt oft vage. Nur so viel: Wenn Talente als feststehende Eigenschaft verstanden werden, richtet sich der Blick auf das, was ein Mensch bereits ist – nicht auf das, was er noch werden kann.
Warum ist das wichtig? Jack Welch, der legendäre Vorstandsvorsitzende von General Electric von 1981 bis 2001, war der Überzeugung, dass es so etwas wie angeborenes Talent nicht gibt und dass Erfolg zu 99 Prozent aus Arbeit besteht. Ich stimme ihm zu.
Zwei Selbstbildtypen: statisch und dynamisch
Carol Dweck unterscheidet zwei grundlegende Selbstbildtypen – das statische und das dynamische Selbstbild.
Menschen mit einem statischen Selbstbild gehen davon aus, dass ihre Eigenschaften – Intelligenz, Kreativität, Leistungsfähigkeit – angeboren und unveränderlich sind. Herausforderungen erleben sie als Risiko: Jede neue Aufgabe könnte das vermeintlich stabile Bild ihrer Fähigkeiten infrage stellen. Fehler gelten in diesem Denkmodell als persönliche Niederlagen.
Menschen mit einem dynamischen Selbstbild glauben, dass Fähigkeiten durch eigenes Zutun – Anstrengung, Übung, gezielte Rückmeldung – weiterentwickelt werden können. Für sie sind Rückschläge Teil eines Entwicklungsprozesses, kein finales Urteil.
Beide Typen findet man in allen gesellschaftlichen Kontexten – im Sport, in Unternehmen, in Schulen. Schon Vierjährige wählen lieber das bekannte Puzzle, wenn sie glauben, ihr Können werde bewertet. Später im Berufsleben heißt das dann: lieber die Routineaufgabe perfekt erledigen als die schwierige unvollkommen beginnen (vgl. Dweck, 2012).
Dwecks zentrale These: Nicht Intelligenz oder Talent loben, sondern Einsatz und Lernbereitschaft
Studien zeigen, dass Kinder, die für ihre Anstrengung gelobt werden, eher schwierige Aufgaben annehmen, während für Talent Gelobte Herausforderungen eher vermeiden – aus Angst, zu scheitern (Deutschlandfunk, 2010).
Auch in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (2015) betont Dweck: Wer glaubt, besser werden zu können, sucht aktiv nach Entwicklung. Wer dagegen an feste Begabung glaubt, bleibt oft unter seinen Möglichkeiten.
Diese Denkweise wirkt weit über Kindheit und Schule hinaus: Laut Dweck bremsen Unternehmen mit einer statischen Talentkultur Innovation, weil die Angst vor Fehlern dominiert. Firmen, die dynamisches Denken fördern, schaffen ein Klima, in dem Feedback, Neugier und Lernen selbstverständlich sind – mit positiven Effekten auf Loyalität, Innovationsfähigkeit und langfristige Performance.
Alexander Kluy (2007) hebt in Gehirn & Geist hervor, dass Menschen mit statischem Selbstbild Kritik als Angriff auf die eigene Person verstehen, während Menschen mit dynamischem Selbstbild Kritik als Information zur Verbesserung nutzen. Auch er betont: Selbstbilder sind nicht festgelegt – sie sind erlernbar.
Jack Welch stellte keine Talente ein, sondern Selbstbilder
Jack Welch orientierte sich in seiner Personalauswahl nicht an makellosen Lebensläufen. Er bevorzugte Kandidaten mit einem dynamischen Selbstbild, denen Herausforderungen mehr bedeuten als Erfolg und Bestätigung. Bewerber mit perfekten Karriereverläufen ließ er bewusst abblitzen. Stattdessen wählte er Persönlichkeiten, die Rückschläge hatten hinnehmen müssen und sich danach wieder hochgerappelt hatten.
Konsequenzen für die Praxis
Kennt man das Selbstbild einer Person, weiß man, ob sie ein dynamisches oder starres Bild von sich selbst hat. Somit lässt sich ableiten, wie sie sich gegenüber Herausforderungen verhält oder mit Feedback und Wettbewerbssituationen umgeht.
Dabei gilt auch: Kaum jemand hat ein ausschließlich starres oder dynamisches Selbstbild – viele bewegen sich zwischen beiden Polen. Für die Personalauswahl ist entscheidend, welches Selbstbild dominiert.
Wer heute Personal auswählt, sollte den Talentbegriff nicht inflationär verwenden. Entscheidend ist nicht, wie viel „Talent“ jemand mitbringt, sondern ob er über ein dynamisches oder statisches Selbstbild verfügt.
Das bedeutet:
- Auswahlverfahren müssen das Selbstbild von Kandidaten sichtbar machen.
- Rückschlagsbiografien sind kein Nachteil, sondern oft ein Prädiktor für zukünftigen Erfolg.
- Lernorientierung lässt sich beobachten: in Sprache, Verhalten und Reaktion auf Feedback.
Wie wir uns ein Bild vom Selbstbild einer Person machen können
Fragen zum Umgang mit Lernen und Feedback
- Welche Fähigkeit haben Sie sich in den letzten zwei Jahren neu angeeignet?
- Erzählen Sie mir von etwas, das Sie anfangs nicht konnten – und wie Sie es gelernt haben.
- Wann haben Sie das letzte Mal eine Rückmeldung bekommen, die weh tat – und was haben Sie damit gemacht?
- Wie erkennen Sie, dass Sie sich weiterentwickeln?
- Was ist Ihnen lieber: etwas sofort gut können – oder es sich erarbeiten müssen?
- Wenn Sie in einem Projekt scheitern würden – woran läge es eher: an mangelndem Können oder an mangelnder Anstrengung?
- Was bedeutet für Sie persönliches Wachstum?
- Was war das härteste Feedback, das Sie je bekommen haben?
- Wie unterscheiden Sie zwischen berechtigter und unberechtigter Kritik?
- Wann haben Sie zuletzt bewusst etwas getan, das außerhalb Ihrer Komfortzone lag?
Beobachtungskriterien (beispielhaft)
- Statisches Selbstbild: spricht von Talent, Begabung, Perfektion, „das liegt mir / das liegt mir nicht“, vermeidet Fehlergeschichten, sucht Bestätigung.
- Dynamisches Selbstbild: spricht von Lernen, Training, Anpassung, beschreibt Lernprozesse, nutzt Fehler als Erkenntnisquelle, reflektiert ehrlich.
Literatur/Quellen
- Dweck, C. S. (2012). Selbstbild. Wie unser Denken Erfolge oder Niederlagen bewirkt. Beltz Verlag.
- Sternberg, R. J. (1997). Successful Intelligence. Plume.
- Gardner, H. (2006). Five Minds for the Future. Harvard Business Press.
- Welch, J. (2005). Winning. Harper Business.
- Deutschlandfunk (2010). Feature: „Richtig Loben – Kinder fordern, nicht frustrieren.“
- Süddeutsche Zeitung (2015). Interview mit Carol Dweck, Johannes Kuhn, 23.04.2015.
- Kluy, A. (2007). Rezension in Gehirn & Geist, Spektrum der Wissenschaft, Ausgabe 06/2007.